von Frieder Butzmann
1911: Francesco Pratella - Manifest über futuristische Musik: Wir müssen den Massen, großen Werften, Eisenbahnen, Transatlantikdampfern, Kriegsschiffen, Automobilen, Flugzeugen, eine musikalische Seele verleihen.
1930: Veleska Gart, Tänzerin, Schauspielerin: Ich möchte eine neue Musik haben, die aus Wirklichkeitsgeräuschen zusammengesetzt ist, z.B. ein "Städtischer Mensch" aus Surren von Aeroplanen, Radrennen, laufenden Menschen, keifenden Frauen und stampfenden Maschinen..., es dürfen nicht nachgemachte Geräusche, sein, sondern solche, die aus dem wirklichen Leben genommen und vom Künstler nur montiert werden.
Ab 1943 Paris: Für einen Mann ganz allein. Eine ganze Symphonie. "Symphonie por un homme seul". Pierre Schaeffer und Pierre Henry sind in ihrem Studio für ihre Zeit gut ausgerüstet: Ein mehrkanaliges Mischpult mit aktiven und passiven Filtern, ein Hallraum, mehrere Mikrofone, Lautsprecher und vor allem Tonbandmaschinen mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Hier werden Dinge als Klangobjekte geortet. - Eisenstange, Zugpfeife oder Nachtigall. Alles wird gespeichert, untersucht, verformt, zu musikalischen Strukturen montiert.
I. In die Objekte hineinhören
- Mikrofone aus verschiedenen Positionen (nah/fern) oder Kontaktmikrofone, um den Schall des Körpers zu "vergrößern"
- Magnetische Aufzeichnung
- Verlangsamtes Abspielen, um den Klang in seiner zeitlichen Entwicklung kennen zu lernen
II. Bearbeiten der Klänge
a) Höhen/Tiefen wegfiltern oder verstärken
b) Ein- und Ausschwingvorgänge eines Klanges verändern, d.h. Meistens: abschneiden oder ein- bzw. ausblenden oder durch Unterbrechen und Schließen von Kontakten zerhacken
c) Krebs, d.h. das Band umdrehen und rückwärts abspielen
d) ganz laut/ganz leise oder lauter werdend/leiser werdend
e) das Band schnell abspielen, dass aus dem Klopfen ein hohes Knacken wird/das Band langsam abspielen, dass aus dem Klopfen ein tiefes Glucksen entsteht
f) verhallen
III. Montieren zu Strukturen
- Mit Schere und Klebeband werden (Mono-)Tonbänder hergestellt. Die fertigen Bänder werden gleichzeitig abgespielt und via Mischpult auf ein Tonband gemixt (zunächst Mono, bald schon Stereo, bald auf 4-5 unabhängigen Tonspuren)
1950er Jahre:
Das Tempophon ist ein Gerät von Herrn Dr. Springer, das
a) die normale Bandgeschwindigkeit ändert, ohne die Tonhöhe zu ändern
b) die Tonhöhe ändert, ohne die Bandgeschwindigkeit zu ändern
c) einen Ton an einer bestimmten Stelle festhält
Das Gerät ist mit einem rotierenden Tonkopf ausgestattet, der es erlaubt
c) ein stillstehendes Band abzutasten
b) ein langsam laufendes Tonband so schnell abzutasten, dass die Tonhöhe gleichbleibt
a) ein laufendes Band schneller oder langsamer abzutasten, wobei sich die Tonhöhe ändert.
1957: Les Paul, Gitarrist, möchte synchron zu sich selbst spielen. Die Firma Ampex baut ihrn mehrere Magnet-Tonköpfe parallel übereinander. Mehrspurtechnik.
1960 Paris: Burroughs, Beiles, Corso, Gysin: "Pick a book/any book/cut it up/cut up/ prosa/poems/newspapers/magazines/the bible/the koran/the book of morons/la-tzu/confucius/the bhagavat gita/anything/letters/lbusiness correspondence/ads/all the words/ slice down the middle/slice into section/according to taste/chepie uorne pour an some Madison Avenue/prose/shuffle like cards/toss like confetti/taste it like pissing hot alphabet soup.”
1965: Steve Reich nutzt die halluzinatorische Wirkung der permanenten Wiederholung. 1966 wiederholt ein kurzes Stückchen Tonband, das er zur Schleife verklebt hat, "Come out, to show them/Come out, show them/Come out, to ...
1965 Mexico: Sam Sotts aus Pribane, Australien gewinnt den von der "Association Mexicaine des Chasseurs de Son" veranstalteten Wettbewerb für Tonbandamateure. Aus dem Ton eines einzigen Wassertropfens hat er durch Schneiden und verschiedene Abspielgeschwindigkeiten ein Menuett Bachs neu interpretiert.
1966 Tokyo: Stockhausen bastelt vier Monate an "Telemusik". Das Ergebnis ist ein 5-Kanal-Tonhand aus elektronischen Klängen und einer "Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen" (wie Stockhausen selbst schreibt), "Tele-musik" wird zur Collage "ehtnischer Musik" aus Bali, Japan, Vietnam, Ungarn, Nordafrika Spanien. Seit Stockhausens "Gesang der Jünglinge" (1956) war Elektronische Musik gleich Tonbandmusik, die ausschließlich aus synthetischem Klangmaterial erzeugt worden ist. Sprachklang seriell, zwischen "verständlich" und "nicht verständlich" abgestuft oder als pures klangliches Ausgangsmaterial, wurde bevorzugte Basis dieser Tonhandmusik. Mit untereinander synchronisierten (aber kaum transportablen) Tonbandmaschinen aus der Filmschneidetechnik konnte man schon in den fünfziger Jahren diese Mehrkanalbänder vorführen.
1967: "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" wird mit einer 4-Kanal-Maschine aufgenommen. Wenige Monate später kostet die erste kommerzielle 8-Kanal-Tonbandmaschine $ 45.000,-.
1970 Gelsenkirchen: Der 18iährige Michael Glasmaier entdeckt Cut-up: Der Kassettenrecorder seines Vaters hat folgende Defekte: Er schaltet manchmal unvermittelt aus. Löscht nicht sicher. Blendet unkontrolliert aus. Und Michael verspricht sich beim Vorlesen der Burroughs-Texte. Das Ganze wird gesendet vom WDR als Hörspiel "Kaputt".
1971 USA: Das Ergebnis der informationstheoretischen Analyse und anschließenden Synthese war das Brandenburgische Konzert Nr. 7. Von einer schwergewichtigen Denkmaschine entworfen anhand (bzw. an Input) myriadischer Reihen statistischer Häufigkeiten und Auftrittswahrscheinlichkeiten von Intervallen, konsonant/sukzessiv in Bachs Werken von 1721. Ausgedruckt als Partitur für Orchester. Der Code war geknackt.
1976, 1977, 1978: Mit Punk entwickelt sich Post-Punk und Post-post-Punk und Post-post-post-Punk usw. Fast jede Mode ist Zitat einer vorigen Mode und Abgrenzung gegen die gerade vorige Mode und jetzige Mode, wobei die neue Mode oft schon als Zitat der vorigen Mode erscheint. Das "AItmodische" wird irgendwann up to date. Garagensound, Sixties-Revival. Neo-Psychedelic. Mods. Teds' n' Roll. New Romantics, usw.
Späte Siebziger: Musiker - den polytheistischen Sammlern von Fetischen gleich - strecken ihre Hände aus nach Gegenständen ihrer Umwelt zur Gewinnung höherer musikalischer und körperlicher lntensität. Die Verwendung industriell hergestellter Apparaturen in zweckentfremdeten Aktionen beschwört eine Großstadtmystik herauf, die die Faszination von Baumaschinen (Einstürzende Neubauten/Berlin), chirurgischem lnstrumentarium (SPK/Sidney), den Schrecken von Totenkopf und Hakenkreuz (Throbbing Gristle/London) in Performances einbezieht. Bilder kultischer Handlungen werden im Zuschauer wachgerufen.
1979 Berlin: Im "SO 36" veranstaltet Burckhard Seiler eine Zensor-Disco-Nacht. Nach einigen Flaschen Bier und Weißwein legt er "Geräusche für den Film- und Tonbandfreund" auf den Plattenteller. Die Fans sind begeistert
Ende der Siebziger: Emulator, Synclavier, Fairlight, PPGWaveTerm sind Firmen- bzw. Produktnamen; sie stehen für digitale Synthesizer, Sampling, digitales Speichern von Tönen. Der KIang eines Gongs (beispielsweise) kann gespeichert und über eine Tastatur wie ein Klavier gespielt werden. Doch: lst der Komponist, der den Schlag eines Gamelan-Gong sampled und damit Musik macht, nun ein Gamelan-Musiker, oder komponiert er elektronische Musik, ist er gar ein Perkussionist? Auf jeden Fall wird kräftig geklaut! - Kaum ein interessanter Sound auf einer Schallplatte, der nicht in anderem Zusammenhang irgendwann nochmals auf einer anderen Schallplatte erklingt. Mit der Erweiterung der Speicherzeit werden ganze Passagen - in Tonhöhe und Dauer angepasst - wiederverwendet. Auf kleinen Disketten gespeichert entstehen Zitat- und Soundsammlungen.
Hinterhof in der Bronx: Der DJ ist Vorbeter, schamanischer Ekstatiker, der das Publikum wie ein "Gospelpriester" mit Rap-(Schimpf)kanonaden zu den instrumentalen B-Seiten der Maxi-Single-Hits rhythmisch einpeitscht. Immer mehr greift er zu weiteren Plattenspielern, streut kurze oder längere Teilstücke allseits bekannter Musiken zwischen Beethoven, Beatles, Kraftwerk, Morricone und Stockhausen ein. Er wiederholt kürzere Passagen, dreht den Plattenteller vorwärts, rückwärts,kratzt, scratcht mit Fingerfertigkeit die Nadel rhythmisch über die Rillen. Treibt das Umdrehungstempo mit artistischen Händen auf high-speed, stoppt genau auf Schlag 1.
1976-1982: lmmer mehr Gruppen entstehen, deren Mitglieder mit Musik noch drei Tage vor dem ersten Auftritt nix am Hut hatten. Nicht Virtuosität, sondern lntensität und Originalität bestimmen die Qualität der Auftritte. Auf der Bühne wird von Kassette Geräuschmaterial (einfach 'was, was gut klingt) eingespielt, eine Rhythmusmaschine mit vor-gefertigten Rhythmen gibt den Beat an. Dazu Gitarrentorturen, Synthesizerklänge, Sprechgesang. Neben expressiven Äußerlichkeiten entwickelt sich eine Atmosphäre in der alle Formen und Stile von Musik einen kurzen Moment lang gleichberechtigt sind. Schallplattenläden werden zu Kommunikationsknotenpunkten und dienen als Archivspeicher für alles, was man mit den Ohren wahrnehmen kann.
1983: Hip-Hop-Futurismus und Electric Boogie. He's fast, he's mean, he's the space-cowboy in his laser-jeans. Anfang der achtziger Jahre - nach dem Jahrzehnt der Kulturen verschmelzenden Meta-Musik - entwickelt die Musikszene der westlichen lndustrieländer eine erstaunliche Unbekümmertheit in der Kombination ganz gegensätzlicher Stile. Malcom McLaren reist um den Globus, macht mit lokalen Musikern Aufnahmen, die auf die jeweiligen musikalischen Traditionen bezogen sind. Diese Tracks bearbeitet er mit Material anderen geographischen und kulturellen Ursprungs, schneidet ineinander, hintereinander, überblendet Soveto-Pop und Square-Dance mit Rhythmusmaschine und DJ-Rap, scratcht.
1984: Eine Fostex 8-Kanal-Tonbandmaschine als Renner im Homerecording-Bereich ist für weniger als $ 2.400,- erhältlich. Die HiFi-Norm als Maßstab heimischer Beschallungsanlagen hat in der Massenproduktion ihren Charakter als Prestige-Objekt verloren. Klangqualität wird zum Kontinuum, an dem entlang sich musikalische Parameter verändern. Einspielungen von Billig-Kassettenrecordern über aufwendige Schallübertragungsanlagen haben inhaltlich Zitatcharakter und sind klanglich durch die technisch "dürftige" Übertragungsqualität manipulierte Klänge.
1985 Frankfurt: Auf der Musikmesse werden Sampling-Systeme ab 2.900,- Deutsche Mark angeboten. Der damit verbundene Einbruch in den Homerecording-Bereich ermöglicht es plötzlich vielen Soundbastlern, Klänge schnell und einfach abzuspeichern, zu verformen, zu montieren, d.h. zumeist in Songs einzupassen. Mit Heimcomputerprogrammen können die Klänge editiert, d.h. bearbeitet, sprich - gefiltert, in Ein- und Ausschwingverhalten, in Obertonstruktur verändert oder einfach umgedreht werden.
1986 England: Noise-Pop! What's that? … Dezember-Anzeige in "Keyboard" Nr. 12lDez. '86: "Kawai SX-24O-Fans! Verkaufe 30 Super Sounds für nur 15,- DM (Alphorn, Voice, Explosion, Wave, Jet, Fr. Horn, u.a.) Rückporto beilegen! ...
1985 Wanne-Eickel: * "lch hab' jetzt 'nen digitalen Sampler!", + "So! Was denn für einen?", * "12 bit, 40 Kilo-Hertz!","Bloß 12?" , * "Na, hör ma M 2 bit heißt, dass Du eine 12-stellige Zahl aus O-en und 1-ern schreiben kannst, also 0 bis 4.095 als Binär Code. Und 40 Kilo-Hertz heißt, dass der Apparat in der Sekunde 40.000 mal abtastet, welchen Wert dir Schallkurve gerade annimmt. Das natürlich aufgerastert in 4.095 Werte, da ..“, + "Ach komm, gib nicht so an!"